Die verschwundene Abtei im Gregoriental
Von Colmar reist man durch ein schönes großes weites Tal nach Westen in die Vogesen, das Münstertal / Valée de Munster. Manche kennen noch den alten Namen Gregoriental, benannt nach einer ehemaligen Abtei. Dieses Kloster St.Gregor / Abbaye Saint-Grégoire war eine der ältesten und mächtigsten Abteien in den Vogesen. Der Hauptort Munster ist heute eine lebendige Kleinstadt mit zahlreichen Geschäften, Cafés und Restaurants laden zum Verweilen ein. Zentrum ist der Marktplatz, von dort erstreckt sich nach Süden das große Klosterareal. Einige Reste zeugen von der ehemaligen Reichsabtei, die mehr als 500 Jahre lang eines der bedeutendsten geistigen und kulturellen Zentren Mitteleuropas war.
Besonders eindrucksvoll sind Reste des Kreuzganges aus dem 17.Jahrhundert. Bei Ausgrabungen hatte man sie 1970 gefunden und wieder aufgerichtet. Eine gotische Türe aus dem späten 15.Jahrhundert mit gehämmerten Wappen ist noch erhalten. Eine Wendeltreppe führte zu den Mönchszellen im ersten Stock. Einige Schritte weiter stehen die Reste der Klostermühle. Sie wird von einem Kanal durch die Stadt versorgt und liefert heute Energie für die Textilfabrik. Im Osten erstrahlt in neuem Glanz ein großes Gebäude, ‚Le Prélat‘ genannt. Es ist das wichtigste Überbleibsel der ehemaligen Benediktinerabtei. Auf Trümmern aus dem 30jährigen Krieg war 1682-1686 ein großer Klosterflügel errichtet worden. Er war nach der Revolution verkauft worden, dann Militärkrankenhaus, dann Wohnungen, dann teilweise zerstört im ersten Weltkrieg. 1940-1988 war hier das Zentralbüro der Textilfirma Hartmann&Fils untergebracht. Die Stadt hat dieses so genannte Prälatengebäude 1988 gekauft und renoviert, nach und nach zogen Parkverwaltung, Tourist-Info, Mediathek und ein Restaurant ein.
Auffälligstes Gebäude am Marktplatz ist der ehemalige Abteipalast, aus dem französischen ‚Abbatial‘ haben die Elsässer ’s Bàssial‘ gemacht. Er wurde 1769 bis 1789 vom letzten Abt errichtet, die Inneneinrichtung war noch nicht ganz fertig bei Ausbruch der Revolution. Der westliche Flügel wurde im ersten Weltkrieg 1915 zerstört und später abgerissen. Unter dem Marktplatz liegen die Reste mehrerer Klosterkirchen, vom letzten Bau wurde 1804 der Chor und 1860 der Kirchturm abgerissen. Als Ersatz ließ der Textilunternehmer Jacques Hartmann 1872 einen Turm östlich an den Abteipalast anbauen. Seine Initialen erkannt man über der Türe zum ‚Storchenturm‘. Das angrenzende verfallende Gebäude von 1870 war der Stadt 1892 von Aimée Hartmann geschenkt worden und beherbergte lange Zeit die ‚Harmoniemusik Hartmann‘ und die Musikschule.
Legenden berichten, dass sich 634 die ersten Mönche im Tal der Fecht niederließen um dort ihr Leben als Einsiedler zu führen. Von ‚der Wüste der Vogesenberge‘ ist die Rede, wo sie ‚kleine Hütten bauten um Gott zu dienen‘. Um 668 soll das „Monasterium ad confluentes“ am Zusammenfluss der beiden Fecht gegründet worden sein, aus dem die Abtei von Munster hervorging. Der Überlieferung nach waren es irische Mönche, die dieses Kloster mit dem Namen „Gotteshus“ gegründet haben, später wurde es Gregor dem Großen geweiht. In den folgenden Jahrhunderten erhielt das Kloster reiche Schenkungen, Kaiser Lothar gewährte 843 dem Kloster freien Zugang zu den Salinen von Marsal in Lothringen. Der Salzhandel über die Vogesenpässe brachte weitere Reichtümer. Diese waren immer wieder Gegenstand von Machtkämpfen zwischen dem Kaiser, den Bischöfen von Straßburg und Basel.
Ein denkwürdiger politischer ‚Kuhhandel‘ ereignete sich 1235: Abt Frédéricus übergab zwei Drittel seiner Gerichtsbarkeitsrechte an Kaiser Friedrich II. von Hohenstaufen, der bereits ein Drittel besaß. Im Gegenzug wurde die Abtei zur Reichsabtei mit Sitzrecht in den Räten und Reichstagen des Reiches. Friedrich II. übertrug zwei Drittel der Gerichtsbarkeitsrechte an die Bewohner des Tals, damit wurde Münster zur Stadt mit Reichsunmittelbarkeit, d.h. auch sie war nur dem Kaiser unterstellt. Noch behielten die Äbte weitgehend die Kontrolle über die Stadt, da sie das Recht hatten, ein Drittel der Stadträte zu ernennen, und der Stettmeister einer von ihnen sein musste. Stadt und Abtei unterzeichneten einen Vertrag, in dem die Rechte und Pflichten beider Seiten genau festgelegt waren: Der Abt des Klosters ist der einzige Grundbesitzer im Tal, er erhält den Zehnten und die Einkünfte aus den Dinghöfen und den Meyerhöfen. Er übt die Gerichtsbarkeit aus. Er ernennt die Beamten. Er hat das Jagd- und Fischereirecht und die Einwohner schulden ihm Frontage, an denen er sie mit Essen und Trinken versorgt. Er überwacht die Maße und Gewichte und ernennt einen Beamten, der speziell mit dieser Aufgabe betraut ist. Dreimal im Jahr hat er das Recht auf einen Bannwein, zu Weihnachten, Ostern und Pfingsten verkauft er seinen Wein unter Ausschluss der anderen.
Die Konflikte zwischen zwei ‚Staaten‘ auf engstem Raum gingen weiter. Während der Bauernkriege floh 1525 der Abt Burkhard Nagel aus der Abtei, sie wurde von den Bewohnern besetzt. Zwischen 1543 und 1559 traten drei Viertel der Einwohner von Munster zum Luthertum über, was die Konflikte mit der Abtei noch verschärfte. Die kriegerischen Auseinandersetzungen konnte erst der Reichsvogt Lazarus von Schwendi mit seinen Truppen schlichten. Im ‚Vertrag von Kientzheim‘ wurden die Rechte der Stadt und der Protestanten neu geregelt. Die katholische Tradition erzählt später, dass der Abt diesen Vertrag ‚mit dem Dolch des Lazarus von Schwendi an der Kehle unterschreiben musste‘. Zur Erinnerung errichteten die Münsteraner an der Wegkreuzung zwischen der Abtei und dem Rathaus einen Löwen als Symbol für Stärke und Mut. Dieser Löwenbrunnen ziert heute noch den Marktplatz von Munster.
Von 1618 bis 1648 litt die Stadt wie das gesamte Elsass schwer unter dem Dreißigjährigen Krieg: Die Stadt und die Abtei lagen in Trümmern. Einen letzten Aufschwung erlebte die Abtei Saint-Grégoire Ende des 17.Jahrhunderts. Das Kloster wurde in die lothringische Benediktinerkongregation von Saint-Vanne und Saint-Hydulphe eingegliedert. Ab 1680 wurden die Trümmer der alten Mauern niedergerissen und neue Fundamente gelegt. 1686 war der Großteil der neuen Gebäude fertiggestellt, der Garten wurde 1692 angelegt.
Die Französische Revolution bedeutete das endgültige Ende des Klosters nach über 1100 Jahren, die letzten Mönche verließen 1791 die Benediktinerabtei von Munster. Der größte Teil der Bibliothek wurde in die Stadtbibliothek von Colmar verlegt, sie umfasst 8.000 Bände. Die Abtei wurde als ’nationales Gut‘ verkauft. André Hartmann kaufte mehrere Parzellen und richtete in den Klostergebäuden eine Stoffdruckfabrik ein. Die Firma ‚Hartmann & Fils‘ wuchs und erweiterte, Webereien und Spinnereien kamen hinzu. Die Dynastie Hartmann setzte sich mit großem sozialem, wirtschaftlichem und politischem Engagement für die Stadt Munster ein.
Im ersten Weltkrieg wurde der Vogesen-Übergang beim Schlucht-Pass zu einem wichtigen Schlachtfeld. Ab Februar 1915 wurde Munster täglich bombardiert und es folgte eine mörderische Schlacht nach der anderen. Am Ende des Krieges war die Stadt zu 85% zerstört, die Hartmann-Werke lagen nur noch in Schutt und Asche. In den 20er Jahren wurden die Fabriken in Munster nach und nach wieder aufgebaut. Es folgten Modernisierungen, weltweite Expansionen. Die Krisen der europäischen Textilindustrie führten schließlich 2009 zur endgültigen Schließung der Manufactures Hartmann.
Hinter Munster führen alle Wege in die Vogesen, heute ein Paradies für Naturliebhaber, Wanderer und Fahrradfahrer. Die berühmte Passstraße über den Col de la Schlucht wurde erst 1860 fertiggestellt, gestiftet von den Textilfabrikanten Hartmann. Seit Jahrhunderten nutzten Händler die drei Pässe über den Col du Tanet (Tanneck), über den Col du Hohneck, oder über den Col du Rothenbach. Auch viele junge Menschen überquerten immer wieder den Vogesenkamm, um einen passenden Ehepartner auf der anderen Seite der Berge zu finden. Bauern aus dem Münstertal trieben schon seit dem 9.Jahrhundert ihre Kühe auf die Sommerweiden in über 1000 Meter Höhe. Aus der Milch machen sie bis heute den weltberühmten Münsterkäse. Vor über 100 Jahren begannen die ‚Marcaires‘, die Melker und Käser, die ersten Wanderer zu empfangen. Heute sind diese ‚Ferme Auberges‘ (Bergbauerngasthöfe) eine einmalige Erfahrung.