Miesme-Umgang an Ladääri
Karsau ist heute ein Stadtteil von Rheinfelden. Der Ort liegt wunderschön am Südabhang des Dinkelbergs. Der Blick schweift von hier oben über den Rhein bis weit in den schweizerischen Jura. Unten am Fluss liegen die Ortsteile Beuggen und Riedmatt. Diese drei Ortsteile sind zwar als getrennte Dorfsiedlungen entstanden, bildeten aber seit dem 13.Jahrhundert eine gewisse Einheit, da sie seitdem den engeren Herrschaftsbereich der Kommende Beuggen des Deutschen Ritterordens darstellen. In diesen alten Bauerndörfern wird ein ganz besonderer Frühjahrsbrauch gepflegt, einer der letzten noch lebendigen Heischebräuche Südbadens. In der Mitte der Fastenzeit, am 4.Fastensonntag, dem Sonntag Lätare, zieht der ‚Miesme‘ durchs Dorf, eine sehr eigentümliche Figur.
Jedes Jahr sind traditionell die 15jährigen Schulabgänger aufgerufen. Schon Wochen vorher beginnen die Vorbereitungen, früher unter der Schirmherrschaft der Jugendfeuerwehr, heute des Schwarzwaldvereins. Die Jugendlichen säubern das Stroh, schneiden die Stängel, binden sie zu Matten zusammen. Wachholderzweige werden geflochten, Buchs wird geschnitten. Am Abend vor dem Umgang wird alles auf einem hohen Gestell, ‚Schdüeli‘, zusammengebaut zu einer überlebensgroßen Figur: Der ‚Miesme‘ trägt einen riesigen Rock aus Stroh. Sein Oberkörper wird aus Buchsbaum gebunden, auf der Brust prangt ein großes rotes Herz, darüber liegt ein weißes Schultertuch. Das ‚Schdüeli‘ wird von einem jungen Mann mittels Helm und Schulterstützen im Inneren getragen, oben steckt ein Kopf mit der typischen Markgräfler ‚Hörnerchappe‘ – obwohl Karsau nie zum Markgräflerland gehörte! Ein Sehschlitz ist in den Strohrock geschnitten. Ein Strick wird um den ‚Miesme‘ gelegt, ein Begleiter führt ihn damit, der ruft mit der ‚Vehglocke‘ die Hausbewohner heraus. Begleitet wird der ‚Miesme‘ von den Jugendlichen, sie tragen weiße Hemden, weiße Zipfelmützen, eine ‚Kratte‘ an der Hüfte und über vier Meter hohen Ruten aus Haselnuss mit einem farbigen Papierbündel. Während der ‚Miesme‘ am Straßenrand wartet, gehen jeweils zwei oder drei Jugendliche zu den Haustüren und sagen ihren Heische-Spruch auf, bitten die Einwohner um Eier oder Geld. Während der Rezitation schwenken sie die Ruten heftig hin und her. Der Umgang führt traditionell einen langen Weg von Karsau über Beuggen nach Riedmatt. Auf der Burstel-Anhöhe oberhalb von Riedmatt werden abends der ‚Miesme‘ und die Schwingstangen verbrannt, nur der wertvolle Kopf mit ‚Hörnerchappe‘, Schultertuch und ‚Schdüeli‘ werden aufbewahrt fürs nächste Jahr. Beim gemeinsamen Verzehren des ‚Eierdotsch‘ wird das eingenommene Geld unter den Jugendlichen verteilt.
Die älteste schriftliche Überlieferung dieses Brauchs in Karsau stammt von 1895. Auch aus vielen anderen Regionen kennt man uraltes Brauchtum, um in der Mitte der Fastenzeit den herbeigesehnten Frühling zu begrüßen. Das symbolische Verdrängen des Winters geschah häufig mit Hilfe einer Strohpuppe, die aus den Dörfern herausgetragen, verbrannt oder ins Wasser geworfen wurde. Stroh symbolisiert das Tote, das Verbrauchte, das Vergangene – den Winter. Der grüne Buchs dagegen verkörpert den nahen Frühling. So gibt es Feste an Lätare die heißen ‚Todaustragen‘ (Schlesien), andernorts heißen sie ‚Sommereinholen‘ (Bergstraße) oder ‚Sommergewinn‘ (Eisenach). Man kennt zahlreiche Strohgestalten mit verschiedenen Namen: ‚Butzimummel'(Attenschwiller), ‚Iltis‘ (Buschwiller), ‚Dürre'(Effingen), ‚Hitzgiger'(Elsass), ‚Hisgier'(Vögisheim), ‚Hutzgyri'(Baselbiet). Zu den grünen Gestalten gehören ‚Bär'(Lausheim), ‚Tannästler'(Effingen), ‚Mieschme'(Riehen) und ‚Miesme'(Karsau). Nur in wenigen Orten haben sich noch rituelle Spiele erhalten, die den Kampf zwischen Frühling und Winter verkörpern, so die ‚Eierleset‘ in Effingen und ‚Hisgier und Uffertbrut‘ in Zunzingen.
Trotz des männlichen Namens ‚Moos-Mann‘ ist in Karsau einmalig die weibliche Darstellung. Ob hier das ‚Mies‘ des Sommers sich mit dem Stroh des Winters vereinigt hat? Einmalig ist auch der Hinweis auf das Mooskleid. Denn Moosmännli oder Mooswiibli sind in Sagen und Märchen gutartige und hilfsbereite Wesen.
Nicht nur der ‚Miesme‘ von Karsau ist mit einem Heischebrauch verbunden. Das Wörterbuch der deutschen Volkskunde erklärt das Heischerecht als überliefertes Brauchrecht von Kindern und Jugendlichen, seltener Erwachsenen, für gewisse Leistungen Geld oder Lebensmittel zu sammeln. Heischebräuche gab es das ganze Jahr über in sehr vielen Orten: Neujahrsansingen, Lichtmesssingen, Ratschen, Pfingstkönigs-Umzug, Martinisingen, Anklöckeln, Frisch- und G’sund-Schlagen. Sie dienten der Verbesserung der Lebensverhältnisse der besonders Bedürftigen. Doch auch die Armen wollten nicht nur nehmen, sondern etwas darbieten, häufig waren dies Sprüche oder Lieder, mit denen sie Glück- und Segenswünsche verbanden. Beim Schenken und Heischen herrschte das ungeschriebene Gesetz „do ut des“ (lat. Ich gebe, damit du gibst.) Diese Rechtsformel für gegenseitige Verträge und Grundsatz sozialen Verhaltens kommt aus der Antike. Die Römer opferten und huldigten ihren Göttern, weil sie einen Gegendienst erwarteten. Die archaische Denkstruktur findet sich auch bei den Votivgaben christlicher Heiligenverehrung. Traditionelle Heischebräuche sind durch Ungleichheit gekennzeichnet. Um ihre Unterlegenheit zu kaschieren, machten die Umherziehenden von Masken, Verkleidungen oder verstellter Stimme Gebrauch. Die Ärmeren, vom Brauch geschützt, mussten sich so ihres Tuns nicht schämen. Da sich ihr Auftreten an überlieferte Termine hielt, blieben die sozialen Beziehungen in der Balance.
Zeugnisse des Sternsingens aus dem 16.Jahrhundert berichten von Kindern, die von Haus zu Haus zogen und die gesammelten Gaben ihren Not leidenden Familien heimbrachten. Auch Schüler und Studenten zwang die Not zu Heischegängen. Bald erhielten sie Konkurrenz durch Handwerksburschen, Tagelöhner und abgedankte Soldaten. „Sie bettelten nicht, sie heischten nur“, schrieb Johann Wolfgang von Goethe. Es ging um Almosen, auch in einem christlichen Sinn. Die Hoffnung, sich durch gute Werke Eingang in ein besseres Jenseits zu verschaffen, war eine starke Motivation. Daher wurden die Kinder in der Regel von der Hausherrin beschenkt. Je nachdem, ob sie damit zufrieden waren oder nicht, lautete ihr Spruch „Glück schlag ins Haus, komm nimmermehr heraus“ oder „Blitz schlag ins Haus, komm nimmermehr heraus.“
Der Heische-Vers beim ‚Miesme‘-Umgang in Karsau lautet:
Mitti Faschte fangt de Summer a, / Do mueß jede Buure en Pflug ha,
vo morgens frueh bis obens spät, / bis de Buur hät sin Acker g’säät.
Wänd ihr wüsse wär unser oberschter Buursma isch, / das isch unser Herr Jesus Chrischt.
Mir Brüeder und Schwestere sin alli sini Knecht und Mägd.
Und wenn de obeschte Buursma nit wär, / stände mänggem Herr de Kaschte leer.
Und wenn es numme e Schnieder isch, / De hockt glii obe an de Disch
und frisst und suuft, s’isch glich was isch: /suuri Riebe, Schpäck und Schnitz.
Und wenn d’r wänd, so gend is au, / und b’schauet euse Miesme au,
und b’schauet d’r euse Miesme it, / so erlebet d’r de heilige Oschterdaag au it!
Wehe, es kam niemand an die Tür, dann wurde früher lauthals gesungen: „Chügeli, Chügeli übers Huus, Schlaa däm gidsige Wib s’Ei zum Füdle us!“










