Tempel des Lichtes
Reist man von Belfort nach Nordwesten ins hügelige Vorland der Vogesen, ragt von weitem der berühmte Hügel von Ronchamp aus der Ebene. Dieser Hügel von Bourlémont, wie er auch genannt wird, der sich auf 475 Meter erhebt, ist der letzte der Südvogesenhügel, der das obere Tal des Ognon beherrscht. Sein Gipfel ermöglichte früher einen 360°-Panoramablick. Der berühmte Kirchenbau des Architekten Le Corbusier ist heute von der Ferne kaum zu erkennen im Dickicht der hohen Bäume. Vorbei an den Ruinen des „Schacht Sainte-Marie“ der ehemaligen Kohleminen von Ronchamp führt ein schmales Sträßchen hinauf, erst kurz vor dem Gipfel öffnet sich die Wiese mit dem eindrücklichen Kirchenbau. Viele Besucher strömen täglich hierher um das architektonische Weltkulturerbe zu bewundern.
Wie alt mag dieser heilige Orte sein? Den merkwürdigsten Fund machte ich vor vielen Jahren mit einer Fotopostkarte vermutlich aus den 70er Jahren. Der Fotograf Gaston Mauss hat den Aufgang der Sonne fotografiert an der Sommersonnwende, gesehen vom Außenaltar der Wallfahrtskirche. Diese Visur zeigt zum Gipfel des Ballon d’Alsace! Hatten schon die Kelten diese merkwürdige Situation gekannt und genutzt? Viele Forscher nehmen hier auf dem Berg ein keltisches Heiligtum an, doch dazu konnten bisher keine eindeutigen Nachweise erbracht werden. Hat Corbusier von diesem astronomischen Phänomen gewusst – bisher konnte ich dazu keine Nachweise finden. Corbusier war fasziniert vom Licht – und diese Faszination ergreift jeden Besucher, wenn die Sonne die Südwand der Kapelle mit den bunten Glasscheiben erleuchtet und Lichtflecken in verschiedenen Farben die weißen Wände verzieren.
Im Jahr 1092 wurde auf dem Hügel von Bourlémont eine kleine Kirche gegründet, sie wurde Pfarrkirche und der Jungfrau Maria Geburt geweiht. Nach einem Erlass König Ludwigs XV. wurde Mitte des 18. Jahrhunderts im Dorfkern von Ronchamp, das in nächster Nähe der protestantischen württembergischen Exklave Montbéliard lag, eine Kirche erbaut, die Notre Dame du Bas genannt wurde, im Unterschied zur Kapelle auf dem Hügel, der Notre Dame du Haut, die fortan nur noch als Wallfahrtskapelle genutzt wurde. Im Zuge der Französischen Revolution wurde 1789 die Kapelle an einen Händler aus Luxeuil verkauft, der darin Tiere und Futter aufbewahrte. Einige Jahre später schlossen sich 40 Familien aus Ronchamp zusammen, um die Kapelle zu kaufen und sie ihrer sakralen Bestimmung zurückzuführen. Seither ist die Kirche Privateigentum. Im 19. Jahrhundert hatten die Wallfahrten einen neuen Aufschwung. Gefördert vom Erzbischof von Besançon wurde die Kapelle vergrößert und nach mehrjähriger Bauzeit 1857 ein oktogonales Vorwerk errichtet, das von vier bekrönten Türmen flankiert war. Auf einem der Türme ragte in der Mitte eine große Marienstatue auf. Am 8. September 1873 fand eine Wallfahrt zu der Kapelle statt, an der sich schätzungsweise 20.000–30.000 Pilger beteiligten. Es war eine der größten Manifestationen der Legitimisten, die nach dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 und dem Sturz des zweiten Kaiserreichs versuchten, in Frankreich erneut die Monarchie einzuführen und den bourbonischen Thronanwärter Henri, Graf von Chambord als Henri V. zum König zu erheben. Nachdem die Wallfahrtskirche im August 1913 infolge eines Blitzschlags ausgebrannt war, wurde von 1923 bis 1926 ein Neubau im neugotischen Stil errichtet. Im Zweiten Weltkrieg war der Hügel von Bourlémont ein wichtiger Beobachtungsposten und Riegel zur Burgundischen Pforte. Im September 1944 wurde die Kirche bei einem Artillerieangriff auf den hart umkämpften Hügel zerstört. Deutsche Einheiten hatten den 35 Meter hohen Glockenturm der Kapelle in einen militärischen Beobachtungsposten umfunktioniert. Am 29. September 1944 stürmten zwei Züge mit senegalesischen Infanteristen den Hügel und überraschten die Deutschen, die noch am selben Tag kapitulierten. Die Schlacht forderte 250 Tote und 700 Verletzte. Am 2. Oktober wurde auch die Gemeinde Ronchamp durch eine französische Panzerdivision zurückerobert. Zum Gedenken an die Kämpfe und „als Zeichen des Opfers und als Mahnmal für den Frieden“ wurden eine kleine Stufenpyramide und ein Friedensdenkmal auf dem östlichen Platz vor der Kirche errichtet.
1953 begann mit Le Corbusier eine völlig neue Ära. Unter Verwendung von Materialien wie Beton, Stein, Holz, Gusseisen, Bronze, Emaille und Glas schuf Le Corbusier ein erstaunliches und leuchtendes Werk. Durch die konstruktiven Qualitäten und die Organisation des Raumes werden die beiden wesentlichen Elemente der Schöpfung hervorgehoben: Materie und Licht. Die moderne Kapelle Notre-Dame du Haut bewahrt das alte Gnadenbild, eine polychrome Holzstatue der Jungfrau Maria aus dem Ende des 17. Jahrhunderts.
Seit dem 17. Juli 2016 sind siebzehn von Le Corbusiers architektonischen Werken, darunter die Kapelle von Ronchamp, als UNESCO-Weltkulturerbe aufgeführt.