Großer Tempelbezirk an der Fernstraße
Die Hochebene der Baar endet im Westen mit einem drastischen Abbruch in die steilen und tiefen Täler der Kinzig und ihrer Zuflüsse. Die alte Grenze zwischen dem Königreich Württemberg und dem Großherzogtum Baden verläuft in Abschnitten entlang dieser Abbruchkante. Immer wieder bieten sich herrliche Ausblicke, nach Osten über die Baar bis zur schwäbischen Alb, nach Westen über die Hügelketten des mittleren Schwarzwaldes. Ein ganz besonderer Ort ist Brandsteig, knapp 5 Kilometer nördlich von Aichhalden. Der Ort trägt auch den Namen „Schänzle“, der auf eine in der Barockzeit hier angelegte Schanzanlage zurückgehen soll. Von ihr sind keine Spuren mehr erkennbar. Zudem ist lokal der Name „Stadt“ gebräuchlich, der auf die Sage von einer ehemaligen Ansiedlung zurückgeht. Auch von der ehemaligen Wallfahrtskapelle „Zum Heiligen Kreuz“, die auf den römischen Mauerresten stand, ist heute nichts mehr zu sehen. Noch um 1500 in der „Rottweiler Pürschgerichtskarte“ abgebildet, ist sie nach der Reformation verschwunden.
Eine unendliche Ruhe herrscht, nur drei Häuser stehen hier. Einige Schritte weiter, am Waldrand, gibt es eine Picknickbank, daneben ein paar römische Steine: Zwei originale Säulen, ein Weihestein (Reproduktion). Eine große Statue des Merkur ist die nachempfundene Kopie eines Fundes von 1983 bei Schenkenzell. Diese Steine waren hier schon vor längerer Zeit aufgestellt worden. Eine Tafel erklärt sie zu einer römischen Straßenstation – doch das hat sich inzwischen als veraltet und falsch herausgestellt.
Am „Brandsteig“ bei Aichhalden-Rötenberg wurden bereits 1770 römische Mauerreste aktenkundig, als ein Gewölbe einbrach. Das entstandene Loch wurde „mit einem Gehäge umgeben, um das Hinabstürzen des waidenden Viehes zu verhüten“ – wie der Historiker und Pfarrer von Marschalkenzimmern, Friedrich August Köhler (1768 – 1844), in einem Bericht vom 23. Juni 1840 schreibt. Eine rege Grabetätigkeit entwickelte sich zur Gewinnung von Baumaterial, einige Säulen ließ Pfarrer Andler zur Kirche in Rötenberg bringen, andere wurden zerschlagen oder in Häuser eingemauert. Aus alten Berichten kann man erahnen, dass viele Inschriftensteine, Säulen und Münzen im Lauf der Jahrzehnte verloren gingen. Ein 1825 an der Quelle entdeckter Altar, der um 90 bis 96 n.Chr. der Lokalgöttin Abnoba geweiht wurde, ging 1944 im Lapidarium in Stuttgart bei einem Bombenangriff verloren. Es handelt sich um die fromme Stiftung des Zenturio der 22. Legion, Quintus Antonius Silo, er dankt für den von ihm erbetenen Schutz bei der Reise durch gefährliche Wälder. Seit einem Fundbericht von 1909 galt der „Brandsteig“ als Prototyp einer mansio, das heißt einer Straßenstation, in der Reisende übernachten und einen Pferdewechsel vornehmen konnten.
Erst im Januar 2013 gab es neuerliche Untersuchungen mittels Georadar – die Ergebnisse übertrafen alle Erwartungen. Der „Brandsteig“ entpuppte sich als großer Tempelbezirk wie er in den gallisch germanischen Provinzen typisch ist. Dies erklärt die hohe Zahl an römischen Säulen, Kapitellen und Inschriftensteinen, die von Rötenberg und Umgebung bekannt wurden. Innerhalb einer Ummauerung lagen mindestens sieben Umgangstempel. Im Innern war das Götterbild wie in einem Schrein aufgestellt, den die Gläubigen nicht betreten, sondern lediglich umgehen durften. Weitere Bauten gab es, wohl meist kultischer Funktion. An der Umfassungsmauer befinden sich zusätzliche Bauelemente, die teilweise als Depoträume, teilweise als Unterkünfte für Personal und Pilger gedeutet werden. Vergleichbare Anlagen gibt es insbesondere im Trierer Land, etwa die Heiligtümer von Gerolstein-Pelm, Tawern-Metzenberg und Hochscheid, aber auch in der Schweiz.
Auf dem „Brandsteig“ befand sich also in römischer Zeit ein Pass-Heiligtum an einer Fernstraße. Reisende, wie der oben erwähnte Zenturio, dankten hier für die geglückte Durchquerung des Schwarzwaldes und den geschafften Aufstieg aus dem Kinzigtal, sie stifteten Münzen, Glöckchen und andere Weihegaben und beteten für einen guten Verlauf ihrer weiteren Reise. Die Benennung des nahegelegenen Flurstücks „Etzenbühl“ deutet auf ein „verschliffenes“ Wort hin und könnte ursprünglich „Götzenbühl“ bedeutet haben, was ebenfalls auf eine ursprünglich heilige, später dann als heidnisch interpretierte Stätte schließen lässt.
Ein Militärstützpunkt an der Kreuzung der Kinzigtalstraße Straßburg–Augsburg mit der Römerstraße Windisch–Köngen wurde um 100 n. Chr. zu einer römischen Stadt erhoben, das römische Arae Flaviae entstand, Rottweil ist somit die vermutlich älteste Stadt Baden-Württembergs. Die Kinzigtalstraße war unter Vespasian unmittelbar nach der römischen Besetzung des oberen Neckargebiets im Jahr 74 nach Christus ausgebaut worden. Am „Brandsteig“ war der Aufstieg aus dem Kinzigtal geschafft. Eine dort liegende Quelle mit hoher Schüttung gab wahrscheinlich den Ausschlag für die Gründung dieses Heiligtums am Pass der Fernstraße.
Der weitere Straßenverlauf vom Brandsteig über das Kastell Waldmössingen nach Rottweil ist im flachen und offenen Gelände meist gut nachzuvollziehen. Umso rätselhafter ist der Routenverlauf beim steilen Aufstieg aus dem Kinzigtal. Östlich von Schiltach musste innerhalb weniger Kilometer ein Höhenunterschied von 400 Metern überwunden werden. Begann der Aufstieg in Schenkenzell? oder in Schiltach? Und wie ist der Übergang bei „Zollhaus“ einzuordnen? Die römische Routenführung verlief über das Kaibachtal hinauf zum Brandsteig. Doch nach dem Verlust der rechtsrheinischen Gebiete für die Römer verlor die Kinzigtalstraße ihre Bedeutung. Sie geriet wohl in dem kaum besiedelten Gebirgstal in Vergessenheit und zerfiel. Viele Jahrhunderte später brauchten neue Herrscher neue Wege. Bereits 1386 findet die Schiltacher Steige als eine der wenigen Schwarzwald-Querverbindungen Erwähnung und genießt überregionale Bedeutung. Das Schiltacher „Auf der Staig“ liegt auf einem Zwischenplateau, darüber erhebt sich der „Schlößleberg“ mit der Ruine der Willenburg. Sie war im 12. Jahrhundert von Zähringern errichtet worden, um den Verkehrsweg hinüber nach Rottweil zu kontrollieren. Der Weg bog südlich der Willenburg ab und führte von dort an Breitreute vorbei nach Aichhalden. Auf dieser mittelalterlichen Straße finden sich gelegentlich noch die Reste der alten Steinplatten mit Wagenspuren darin. Auf einer Landkarte der „Gräffl. Fürstenbergischen Herrschaft im Kintzgerthal“ von 1655 wird dann von Johann Jakob Mentzger ein Zollhaus eingezeichnet. Es ist das heute noch als Zollhaus bekannte Gebäude, wo die heutige Steigstraße auf die Straße zwischen Aichhalden und Rötenberg mündet. Seit wann diese neue Steigstraße dann nördlich der Willenburg weiterverlief und seit wann das Zollhaus als solches seine Funktion übernommen hat, ist nicht bekannt. Spätestens um 1700 hatte die südliche Variante ausgedient. Durch die moderne Waldbewirtschaftung sind die alten Spuren arg bedroht, solche einzigartigen kulturhistorischen Zeugnisse mittelalterlicher Straßenbauweise drohen für immer zu verschwinden.